Baustile Nord- und Ostsee: Typisch Küste
Tradition ist Trumpf: Wer im Norden wohnt, hat es gern authentisch. Doch was ist eigentlich "typisch nordisch"?

Backstein, Klinker, Fachwerk, Reet. Auf die Frage nach norddeutschen Baustilen hat man diese Begriffe rasch parat. Denn eher als besondere Hausformen sind es die Materalien, die das Bild der Architektur längs der Küsten seit Jahrhunderten prägen. Aus simplem Grund: Die Rohstoffe dafür – der Lehm für den Backstein, der Ton für den Klinker, das Schilf für das Reetdach und das Holz für die Gefache des Giebels – finden sich vor Ort. So weit, so pragmatisch. Doch darüber hinaus auch so bewundernswert, was die Handwerker daraus zu machen gelernt haben, so dass Bau-Kunst daraus wurde.


Wenig ist an der Nordsee so beliebt wie das Reetdach. Für Ferienhäuser ist es gar zum Statussymbol geworden: In Kampen auf Sylt zum Beispiel ist es vorgeschrieben – zum Preis hoher Versicherungskosten und des Verbots von Feuerwerk zu Silvester. Denn wie real die Feuergefahr ist, zeigt schließlich schon der Blick auf das „Geesthardenhus“, den Urtyp des Reethofs in der Marsch oder auf der Geest: An der Längsseite hat es einen hohen Brandgiebel, aus dem Bewohner im Ernstfall flüchten konnten, weil sie dort am besten vor brennend herabfallendem Reet geschützt waren. Das ist auch beim „Uthlandfriesenhus“ der Inseln und Halligen so – und erst recht beim „Haubarg“ von der Halbinsel Eiderstedt: Er diente einst, daher der Name, dem Bergen von Heu bis unter den First, weshalb er sehr hoch gebaut – aber auch besonders feuergefährdet war. Wohl auch deshalb gibt es diesen Haustyp heute kaum noch: Der „Rote Haubarg“ bei Witzwort, der heute ein Restaurant beherbergt, ist einer der letzten.


Welche Wunderwerke man aus Eichenfachwerk machen kann, bestaunt man eher im Nordseegebiet: bei den Obstbauern im Alten Land, im Oldenburgischen, bei den Dithmarscher Bauern. Und aus Reet, im Osten „Rohr“ genannt, ist das Dach vieler Häuser auf den Inseln. Früher vor allem bei Katen oder Fischerhäusern: Da es billiger war als Ziegel, deckte Reet nicht wie heute schicke Ferienvillen, sondern die Häuser kleiner Leute. Stichwort Ferien: Einen eigenen Stil brachte zuletzt auch der Tourismus hervor – die Bäderarchitektur der Ostseeinseln.


Zum Schutz vor einem anderen Element, dem Wasser, stehen norddeutsche Höfe oft auf einer Warft. Auch längs der niedersächsischen Küste, von der Wesermarsch bis Ostfriesland, sieht man dies. Anders als in Nordfriesland sind die Dächer hier oft ziegelgedeckt. Und als Hausform gibt es das T-förmige „Krüsselwarck“ (Kreuzwerk), bei dem Wohn-, Mittel- und Viehhaus voneinander getrennt sind – häufiger aber das Wohnstallhaus oder Hallenhaus: ein „Einhaus“, meist in Ständerbauweise, bei dem Wohnung, Stall und Erntelager in einem Hauskörper zusammengefasst sind. Man lebte also fast mit dem Vieh zusammen. Prachtvolle Stuben wie die „Pesel“ reicher Nordfriesenhöfe waren eher die Ausnahme – den meisten Platz beanspruchten das Vieh, das Heu, das Korn. So ist es auch beim „Gulfhaus“, das es auch am Niederrhein und bis hinauf nach Pommern gibt – und das in vielen Dörfern noch bis heute erhalten ist. Freilich meist zweckentfremdet: In Loquard bei Aurich dient ein Gulfhof als Schule, in Hollen bei Leer als Sparkasse. Und in Wiegboldsbur, immerhin, als Lehrhof, betrieben vom Naturschutzbund NABU.
Stichwort Landwirtschaft: Wie sie „damals“ funktionierte, davon wissen auch die Bewohner historischer Häuser heute oft wenig. Oder hätten Sie gewusst, dass das „Eulenloch“ im Giebel als Rauchabzug ebenso wichtig war wie als Einflug für den Mäusefänger? Und was es mit den Pferdeköpfen darüber auf sich hat? Das Niedersachsenross, stimmt. Aber auch eine dunkle Erinnerung an den Brauch, echte Pferdeköpfe auf Stangen aufzustellen. Zur Abwehr von Gefahren wie der Pest, die es heute zum Glück nicht mehr gibt.
BEL 04/14