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FOTO: AdobeStock/JFL Photography

Es ist das Schicksal jeder modernen Architektur, dass sie unweigerlich irgendwann historisch wird. Auch wenn es einige Städte geschafft haben mögen, als „modern“ in die Geschichte einzugehen – allen voran New York, das synonym mit der Entwicklung des Wolkenkratzers ist –, haben auch diese mittlerweile eine gewisse Patina bekommen. Und dann gibt es die Städte und Länder, die gefühlt immer schon „historisch“ waren – und die Schweiz gehört für viele dazu. Das bukolische Bild von „Heidi-Land“ mit den weißen Gipfeln und den süßen Chalets (mit denen wir uns ja im letzten Heft schon beschäftigt haben) hat sich bis heute international gehalten. Selbst im Mittelland mit seinen „großen“ Städten wie Zürich, Bern, Genf oder Lausanne kommt uns in Sachen Architektur (wenn überhaupt) wohl am ehesten der Klassizismus der Altstädte in den Sinn. Dabei steht die Schweiz genauso im architektonischen Dialog mit der Welt wie große Metropolen, auch wenn die Gesprächspartner oft nicht mit ihr assoziiert werden.

Als der Schweizer Architekt Charles-Édouard Jeanneret-Gris noch in seinem Heimatland baute, war er kaum bekannt; später – als Le Corbusier – prägte er mit seinem Brutalismus das 20. Jahrhundert. Auch Herzog & de Meuron verbinden wir eher mit der Tate Modern, der Hamburger Elbphilharmonie oder dem Nationalstadion in Peking als mit den eher unscheinbaren Projekten in ihrer Heimatstadt Basel.

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MEHR ALS „NUR“ NATUR Berge und Grün, so kennen wir die Schweiz. Dabei hat sie neben Naturparks wie hier dem Gantrisch auch in Sachen Architektur einiges zu bieten. Vom Chalet bis zum mittelalterlichen Stadtkern

Unterschätzte Größe

Tatsächlich ist die Schweiz kein Land der architektonischen Superlative; die Adjektive „welthöchster“ oder „-größter“ sucht man hier vergeblich. In der Geschichte der Schweiz fehlen außerdem die allmächtigen Herrscher, deren Cäsarenwahn sie antrieb, sich Denkmäler zu setzen. Hier gibt es kein Versailles, keinen Petersdom. Aber unter Architekturliebhabern gilt die Schweiz nicht umsonst als großes Freilichtmuseum, existieren hier doch unzählige Stile friedlich nebeneinander, in denen sich auch die für die Schweiz typische regionale Eigenständigkeit zeigt: von den Tessiner Steinhäusern über die Ostschweizer Fachwerkhäuser bis zu den Berner Chalets oder Jurahäusern.

Auch und gerade in Sachen moderner Architektur hat die Schweiz einiges zu bieten: So verewigte sich das japanische Büro SANAA mit dem Rolex Learning Center an der ETH Lausanne, das sich wie ein architektonisches UFO auf dem Campus niederlässt. Renzo Piano erbaute das Zentrum Paul Klee mit seinen geschwungenen Formen als moderne Landschaftsskulptur. Der moderne Erweiterungsbau des Landesmuseums in Zürich scheut den Kontrast zum schlossähnlichen Hauptgebäude nicht. Im Gegenteil, er betont ihn sogar bewusst.

People at Kreuzgassbrunnen on Kramgasse street with shopping area in old city center of Bern, Switzerland AdobeStock_143283020_Roman_Babakin.jpg
Kramgasse, Bern | FOTO: AdobeStock/Roman Babakin

Schweizer Urbanität

Gerade das Schweizer Mittelland eignet sich hervorragend für eine architektonische Zeitreise, die bis in die Zukunft reicht. Hier konzentriert sich seit Jahrhunderten die Schweizer Urbanität, denn das Mittelland ist – relativ gesehen – die flachste Region der Schweiz. Alle Städte mit mehr als 50.000 Einwohnern befinden sich hier, mehr als zwei Drittel der Schweizer Bevölkerung sind hier zu Hause. Mittelalterliche Stadtkerne – eindrucksvoll ist beispielsweise die Brunngasse in der Berner Altstadt, deren früheste Erwähnung aufs Jahr 1349 zurückgeht – gesellen sich zu prunkvollen Barockbauten und dem Neoklassizismus der Bahnhofsviertel von Zürich oder Winterthur. Das Suurstoffi-Areal gilt als eines der größten nachhaltigen Stadtquartiere der Schweiz, mit holz-hybriden Hochhäusern und energieautarker Bauweise. Die Schweiz mag zu Unrecht ein wenig unter dem Radar der modernen Architektur fliegen – aber vielleicht bewahrt gerade das sie davor, frühzeitig zu verstauben, und erlaubt ihr im Gegenteil, abseits aller Superlative als zeitlos in die Geschichte einzugehen.

Blumenwiese im Frühling mit Chalet, Berner Mittelland, Schweiz AdobeStock_132156874_matho.jpg
Berner Mittelland | FOTO: AdobeStock/matho

Barbara Wallner

BEL 03/25